Die Dosis macht das Gift

Tradition liegt wieder im Zeitgeist und der Begriff Heimat wurde schon lange nicht mehr von so vielen Seiten vereinnahmt wie heute. Nahezu alle Philosophen haben sich mit diesen zwei Themen mehr oder weniger erschöpfend beschäftigt, es gibt wissenschaftliche Studien und Abhandlungen, unendlich viele Thesen und Erklärungsversuche. Und dennoch kann es dafür kein allgemein gültiges Verständnis geben, da diese einem ständigen Wandel unterliegen und von multidimensionalen Einflüssen geprägt sind. Spannend sind jedenfalls die extremen Positionen, mit denen sowohl Heimat wie Tradition vereinnahmt werden können.


Grenzenlos verwurzelt

Keine Heimat zu haben, würde für viele bedeuten, keinen Ursprung und keine Identität zu haben. Keinen Ort, wo man herkommt oder eine neue Heimat gefunden hat. Oder man findet sich in seiner ursprünglichen Heimat fremd, weil diese sich so stark verändert hat, dass das Gefühl Heimat nicht mehr vorhanden ist. Gerade soziale und kulturelle Veränderungen können neben den räumlichen Aspekt für Verzerrungen sorgen. Heimatlos zu werden oder sich so zu fühlen, geht immer auch mit dem Verlust von Nähe und Zugehörigkeit einher. Aber auch die bewusste Abgrenzung, der Rückzug aus dem Kollektiv, das Ausschließen der realen Welt kann Heimat obsolet machen.

Dem steht diametral jene Heimatliebe gegenüber, die für Nichtheimische am Grenzzaun endet. Nationalisten und nationale Regionalisten, die ihre Heimat gegenüber allen und jedem verteidigen, die ihren Heimat(t)raum gefährden könnten, besetzen den Begriff gerne politisch. Für sie ist in ihrer fälschlich imaginierten Idylle nur logisch, dass sie die Probleme jenen überantworten, die hier ihrer Ansicht nach, keine Heimat haben. Abschottung als Mittel zur Erhaltung der Kultur, der Sprache, der Tradition und vor allem der Kontinuität. Nur keine Veränderung des Status qou. Gespräche über ihre Heimat mit Gleichgesinnten bei einem Dürüm Kebap, nach Hause geliefert von einem indischen Lieferdienstfahrer.

Fortschreitend traditionell

Eingeschworene Traditionalisten beschreiten ausgetretenen Pfade und verschließen sich Veränderungen so lange, bis sie selbst an ihrer Rückwärtsgewandtheit ersticken. Traditionen können eine erfolgsversprechende Strategie sein, solange die Bedingungen gleichbleiben. Wie gesagt: können. Hexenverbrennungen und sonstige Hinrichtungen waren früher traditionelle und gut organisierte Unterhaltungsformate. Sozusagen das Fernsehen des Mittelalters zur Primetime. Hätten wir an dieser Tradition festgehalten, dann hätten wir heute keine freien Demokratien.

Dem gegenüber steht der Fortschritt um jeden Preis. Die faszinierenden technische Errungenschaften unserer Zeit werden vielfach auf dem Rücken unserer Gesellschaft ausgetragen. Staaten wie China nutzen diesen Fortschritt für die Kontrolle ihrer Bevölkerung. Westlich Staaten investieren Milliarden in die Genforschung zur Optimierung von fast allen Lebewesen. Ignoriert wird dabei das enorme Potential unseres menschlichen Bewusstseins, das dadurch immer mehr verkümmert und beeinträchtig wird. Technischer Fortschritt mit menschlichem Rückschritt.

Wie auch immer wir Dinge betrachten, die Ränder sind voll mit Verblendung, Überheblichkeit, Selbsterhöhung und radikalem Verhalten. Wir erleben gerade eine Zeit, in der sich (zu) viele auf die Ränder zubewegen. Extreme Haltungen, starre Positionen und eigene Faktenwelt, die davor schützt, sich mit anderen Sichtweisen auseinanderzusetzen. Kein Platz mehr für ein gesundes Miteinander, keine Streitkultur und kaum noch Vorbilder, die uns positiv beeinflussen könnten. Also müssen wir selbst dazu beitragen, im wahrsten Sinne des Wortes wieder „nüchtern“ zu werden und dem Rausch der Extreme zu widersagen. Wir müssen uns bewusst machen, dass vieles, dass wir instrumentalisieren, nicht die Wahrheit, sondern ein Fantasie- und Wertekonstrukt in unseren Köpfen ist. Mehr Erinnerung, Vorstellung und Zauber als wahrgenommene Gegenwart. Mehr Sehnsucht, Hoffnung und Utopie als erfahrene Wirklichkeit und vorhersehbare Zukunft.

Tom Stadlmeyr

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